Musha Shugyo

Die Innere und Äußere Herausforderung
und
Reise des Kriegers
(zitiert aus dem Buch Ninja 3 - v. Stephen K. Hayes)

In den westlichen Kulturen wird das Wort »Erleuchtung« oft gebraucht. Es ist schnell zur Hand und doch schwer zu definieren. Meistens stellt man sich darunter ein Gefühl vor, eine Art Super-Verständnis, oder ein Stadium, in dem Feierlichkeit und Heiligtum vorherrschen, doch auf ihrer wahrsten und wichtigsten Ebene kann die Qualität der Erleuchtung mit keinem dieser niederen Stadien verglichen werden. Erleuchtung ist nicht das Ergebnis gefühlsmäßiger, intellektueller oder religiöser Prozesse. Es ist uns nicht möglich, eine Vorstellung von der Erleuchtung zu vermitteln, da diese Wirklichkeit sich nicht in Worte fassen läßt; jeder derartige Versuch führt nur dazu, den Suchenden noch weiter von seinem Ziel abzubringen.

Man kann Erleuchtung suchen und verschiedentlich wird sie sogar den Suchenden überraschen, wenn sie in ihm zu erblühen beginnt. In den meisten Fällen jedoch liegt der Schlüssel zum Stadium der Erleuchtung im Gehenlassen des ehrgeizigen Strebens um Anerkennung und im Sich-selbst-verlieren in einer allesumfassenden Aktivität oder Situation. Dieses Gefühl der Selbstlosigkeit kann das Produkt einer Einswerdung mit einer glorreichen Umgebung oder einem bedeutungsvollen Ereignis sein oder einfach nur aus dem Abstreifen aller Zwänge und dem Verschmelzen mit einer einfachen Handlung bei gleichzeitiger Beruhigung des Geistes herauswachsen. Zuerst scheint man nur die eigene Teilnahme zu beobachten, möglicherweise bis zu der Ebene des Erkennens der erfahrenen Befriedigung, doch dann wird die Beobachtung tiefer, bis der Beobachter und das Beobachtete miteinander verschmelzen und jedes Gefühl des Zweiseins verschwindet. Denkt man an einen solchen Augenblick zurück, erinnert man sich allein an Ehrfurcht, Freude, totales Einssein und Lebenskraft. Im Augenblick des Zustandekommens selbst ist dieses Gefühl des Verschmelzens derart überwältigend und der Geist so entspannt, dass jeder beschreibende Gedanke während dieser Zeitspanne unmöglich ist.

Die Erleuchtung ist ein inneres Phänomen, das in Erscheinung tritt, wenn jegliche unnatürliche, bedrückende Schwere aus unserem Leben ausgeschlossen wird. Sie bringt ein anderes Denken mit sich, das zu Einsichten führt, welche unsere Lebens- und Handlungsweisen grundlegend verändern können. Für den mystischen Krieger bedeutet Erleuchtung, zu der Erkenntnis zu gelangen, dass jedes Ding bloß eine Illusion darstellt. Dieser Aspekt der Erleuchtung beinhaltet oft die erschütternde Wahrnehmung, dass alles, egal als wie »gut« oder »schlecht« es gilt, vom Universum und seinen Teilen als »richtig« und »angepaßt« bewertet wird. Ein derartiger Durchbruch des Verständnisses verschafft großen Trost und Kraft. Vor der Erfahrung der Erleuchtung wird dieser Gedanke natürlich als verwirrend, sich widersprechend, ja sogar absurd abgetan.

Diese neue Erkenntnis bewirkt einen Ausbruch aus den Ängsten und der Hilflosigkeit der dunklen Zeit, in der man den Menschen sagte, sie seien Spielzeuge in den Händen von Göttern und Teufeln und sie dürften den Platz, den ihnen das Leben zugeschrieben habe, keinesfalls verlassen, möge er auch noch so armselig sein. Es gab politische und religiöse (und daher auch wirtschaftliche) Argumente dafür, die Massen in Unwissenheit über ihre eigene Kraft zu lassen. Weniger soziale Unruhen und Wirrnisse waren die gewünschte Folge. Der für diese gesellschaftliche Ordnung zu zahlende Preis bestand unglücklicherweise aus Armut, Leiden, Ausbeutung und einer breiten Mehrzahl von Menschen, die ihr irdisches Dasein ohne persönliche Identität, Würde und Freiheit fristeten.

Eine der klassischen Methoden zur Herbeiführung der Erleuchtung besteht darin, sich allen begrenzenden Bindungen zu entziehen. Diese Hindernisse werden symbolisch als die Bindungen Name, Elemente und Leere bezeichnet. Wenn ein Krieger sich auf ein Musha Shugyo begibt, dann tritt er eine Reise zu einem höheren, größeren Wissen an, indem er zuerst die Illusionen zerstört, die ihn im Laufe der Jahre gefesselt haben.

Der erste dieser Einflüsse, mit denen man abrechnen muß, ist der Name oder, einfacher gesagt, »derjenige, der du in diesem Moment bist«. Im Allgemeinen bezieht sich dieser Punkt auf die Vergangenheit; er beinhaltet alles, was man bis zu diesem Zeitpunkt getan hat oder was einem angetan wurde. Somit stellt er eine Art kosmische Abrechnung aller Vorkommnisse dar, die sich scheinbar ohne bewußten Zusammenhang von Ursache und Wirkung zugetragen haben.

Dieser Einfluß besteht aus allen Dingen, gegenüber denen Sie sich in diesem Leben machtlos fühlen. Er bezieht all jene körperlichen, sozialen, familiären, kulturellen und genetischen Aspekte ein, die Sie automatisch erbten, als Sie geboren wurden, ebenso wie Ihre natürlichen Fähigkeiten, Ihre Talente und Neigungen. Ferner gehören Ihre gesamte Persönlichkeit, Ihr Körper und Ihr gefühlsmäßiges Leben in diese Kategorie. All diese Faktoren werden unter der Sammelbezeichnung Name zusammengefaßt, da er für alles steht, was Sie sind.

Der zweite Einfluß, dem Sie sich bewusst werden und den Sie überwinden müssen, ist die Wirkung aller äußeren Elemente in Ihrem Leben. Im Normalfall findet dieser Einfluß in der Gegenwart statt und hat Nachwirkungen in der Zukunft; es handelt sich hier um die Art und Weise, wie Sie von jedem Zwischenfall berührt werden, der sich im Rahmen eines sichtbaren Zusammenhanges von Ursache und Wirkung bewegt.

Diesen Einfluß könnte man als jene Dinge bezeichnen, die in Ihrem Leben Ihre täglichen Aktivitäten bestimmen. Ihre Freunde und Feinde, die Stärken und Schwächen, die Sie im Laufe Ihrer Existenz entwickelt haben, die Art, wie Sie in Ihren Beziehungen vorgehen, all diese Faktoren gehören in diese zweite Kategorie. Ebenso passen die Auswirkungen Ihrer aktuellen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen hierher und Ihre Fähigkeit, alle auftretenden Hindernisse zu bewältigen und die guten Gelegenheiten beim Schöpf zu fassen. Diesen zweiten großen Einfluß nennt man Elemente, da er für alles steht, was Ihr Leben bestimmt.

Die dritte Sphäre, die Sie sich bewusst machen müssen, besteht in Ihrer Verantwortung für alles, was es in Ihrem Leben gab, gibt oder geben wird. Normalerweise bedeutet Verantwortung, dass man etwas tun muß, zu dem man sich verpflichtet hat. Dies ist auch hier der Fall. Sie müssen wissen und fühlen, dass Sie der einzige sind, der etwas zu tun vermag, um Ihr eigenes Leben zu verändern.

Diesen Einfluß könnte man als den Grad Ihres Willens bezeichnen, den Sie besitzen, um Ihre persönliche, kreative Kraft zur Bestimmung Ihres Lebens einzusetzen. Nur Sie selbst sind verantwortlich für alle Probleme und Triumphe Ihrer Existenz. Sie waren an ihrem Entstehen beteiligt oder unternahmen nichts, um die erstgenannten rechtzeitig zu verhindern. Sie müssen diese Ereignisse als das annehmen, was sie in Wirklichkeit sind - als Lehrer, die Ihnen helfen zu wachsen und weiterzukommen. Diesen dritten großen Einfluß nennt man Leere, da er für das ganze, noch nicht konkretisierte Potential steht, das Ihre Zukunft gestalten wird.

Um das, was Sie als die Wirklichkeit kennen, beeinflussen zu können, müssen Sie die Wirkungen der aufgezählten Faktoren erkennen: jener, die Sie von Geburt an haben, jener, mit denen Sie täglich in Berührung kommen, und schließlich jener, über die Sie verfügen, um Ihr Leben in die gewünschte Richtung zu lenken. Gleichzeitig müssen Sie alle Bindungen an die begrenzenden Faktoren unterbrechen, die in diesen drei Persönlichkeitsaspekten vorzufinden sind.

Ist dies geschehen, so erreicht der Suchende auf dem Pfad des Kriegers einen Punkt, von dem aus er die Möglichkeit hat, sein Leben so zu sehen, wie es wirklich ist, und er kommt in den Besitz einer spontanen Anpassungsfähigkeit, die es ihm erlaubt, die Kraft voll auszunützen, die in jedem einzelnen Augenblick seines Lebens ruht. Wenn jene Aspekte des Lebens, die wir unter den Sammelbezeichnungen Name, Elemente und Leere kennengelernt haben, den Krieger nicht mehr länger in ihrem Bann halten, kehrt dieser zurück zu einem »Nullstadium«, zu einem perfekten, neutralen Reichtum an Hilfsquellen. Diese Rückkehr zum Ausgangspunkt vermittelt dem Kämpfer die Fähigkeit, sich zu entspannen und doch mit jedem Umstand fertig zu werden, der in seinem Leben in Erscheinung tritt.

Der »Name« steht für alles, was Ihnen von Geburt an mitgegeben ist. Jede Verbindung zum Namen abbrechen heißt also folglich, jegliche Begrenzung der Person aufzugeben und jeder Schwäche, von der Sie dachten, ein Leben lang damit auskommen zu müssen, ein Ende zu bereiten. Dies ist viel härter, als es im ersten Augenblick aussehen mag. Es bedeutet letztlich, eine Menge bequeme Ausflüchte und selbstbegrenzende Gewohnheiten und Gedanken aufzugeben.

Die »Elemente«symbolisieren Ihre Standardmethoden, die Sie anwenden, um auftauchende Probleme oder Situationen zu bewältigen. Jede Verbindung zu den Elementen abzubrechen bedeutet also, Ihre üblichen, unüberlegten, gewohnheitsmäßigen und möglicherweise gar nicht angepaßten Reaktionsschemata über Bord zu werfen. Auf die gleiche Weise verfährt man mit Vorurteilen (die mögliche Handlungen oder Gedankenwege schon von vornherein abwürgen) oder Meinungen, die jegliches Handeln unmöglich machen. Dies ist sehr schwierig, da es bedeutet, das ganze bisherige Lebensverständnis aufzugeben und persönliche Ideale drastisch zu verändern, ja sogar ganz aufzugeben, da sie in der Gegenwart nicht mehr zu den gewünschten Ergebnissen führen.

Die »Leere«symbolisiert die Kraft, über die Sie verfügen, um die Richtung Ihres Lebens zu bestimmen und es zu formen. Jede Verbindung zur Leere abzubrechen heißt demnach, dass Sie Ihr sinnloses Vorhaben aufgeben müssen, alle Handlungen, Pläne und Wechselwirkungen allein auf rein vernunftmäßige oder mechanische Prinzipien zu gründen. Des Weiteren müssen Sie der Vorstellung ein Ende machen, dass alle Erfahrungen in Ihr persönliches Vorstellungsmodell über Wesen und Sein eines jeden Dinges passen. Dies ist sehr schwierig, da es auch bedeutet, dass Sie Ihre Vorstellungen von Vollkommenheit und vom Schicksal neu überdenken müssen. Die persönliche Führung Ihres Lebens und die höhere Führung des kosmischen Laufs der Dinge müssen sich die Waage halten. Ein Ungleichgewicht auf diesem Gebiet kann zu einer doppelten Gefahr führen, da jede Seite ihre spezifischen Risiken für Sie mit sich bringt. So können Sie einerseits Ihr Leben lang einen hoffnungslosen Kampf führen, da Sie unfähig sind, die kosmischen Zeichen in Ihrem Leben zu deuten oder gar zu bemerken. Andererseits ist es auch möglich, dass Sie in eine totale Hilflosigkeit verfallen, da Sie sich nur noch auf das Warten und auf die Hilfe von Geistern, freundlich gesinnten himmlischen Wesen oder mythischen Helfern aus Märchen verlassen, um Ihre Arbeit zu tun, um zur Erleuchtung, zur »Rettung« zu gelangen. Beide Extreme führen unweigerlich zu Enttäuschungen.

Ein Krieger kann unmöglich die Stufe der Erleuchtung erlangen, indem er ein Buch liest oder einer bestimmten Reihe mechanischer Schritte folgt.